Der Ursprung der Krähenwölfe (Legende der Wölfe)

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Der Ursprung der Krähenwölfe (Legende der Wölfe)

Beitragvon Tenebrae » Di 10. Mär 2015, 17:16

Diese vom alten Wolf geheulte Geschichte ist in allerlei Variationen und mit mehr oder weniger Inhalt unter den Wölfen bekannt.
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„Mutter! ….Mutter!! Sura, Sura ist weg!! Er ist weg. Einfach weg!“


Zittriges, entrüstetes Schreien des jungen Wolfes, der panisch zum Rudel rannte. Schweigen antwortete dem Tier, nicht nur von der Mutter, sondern auch vom Rudel, welches ungewohnt eng beieinander lag und sich in Stille hüllte und Niedergeschlagenheit.

„Die Krähe hat ihn geholt! Er ist weg! Er ist tot!“,

schluchzte der junge Wolf und robbte die letzten Meter im Tiefgang mit eingezogenem Schwanz zu seiner Mutter. Der stolze Einjährige war viel zu verstört, um peinlich berührt über das überwältigende Schutzbedürfnis zu sein, dass es nun empfand und bei seiner Mutter zu ersticken suchte. Sein Bruder war weg. Einfach so, wie vom Erdboden verschluckt. Seit sie die bunte Krähe vor Tagen gesehen hatten, hatte er sich zurückgezogen, war einsilbig geworden und schaute ständig in die Ferne. Und nun war er fort. Die Geschichten seiner Kindheit waren wahr! Wenn die Krähe auftauchte, verhexte sie eines der Jungen und dieses folgte dem Wesen und verschwand auf nimmer Wiedersehen. Die Einen sagten, sie würden an einem abgelegenen Ort zu lebendiger Starre verzaubert und dann pickte die Krähe ihnen bei vollem Bewusstsein das Fleisch von den Knochen. Andere meinen, dass die Jungen verschleppt werden und als Entfremdete bei den Menschen landeten, wo sie mit Kette und Feuer abgerichtet werden, um ihren neuen Herren dienstbar zu sein.

„Humbug!“, krächzte der Wolfsgroßvater, der sich, der düsteren, niedergeschlagenen Stimmung zum Trotz, wohlig räkelte und von seinem Kurzschlaf erhob. „Wer hat dir das denn in deinen Kopf gekippt?!“, herrschte das alte, graue, zerzauste Tier das Jungtier an, welches halblaut seine Vermutungen gemurmelt hatte. Sämtliche Augenpaare ruhten nun auf ihm und antworteten mit Schweigen. „Ach ja...das war ja ich gewesen...“, grinste der alte Rüde und entblößte dabei die wenigen Zähne, die er noch besaß. „Hätte erwartet du hättest mehr Grips in der Birne... War absehbar, das er gehen würde. Selbst wenn er lag konnte ich in Sura's Schatten schlummern, so groß war er mittlerweile.“

Immer noch Schweigen. Die Erwachsenen schauten betreten zur Seite. Selbst, da sie wussten, oder vielmehr erzählt bekommen hatten, was geschehen war, drückte die Last des Unbekannten und Unbegreiflichen auf ihren Gemütern. Es kam nicht häufig vor, dass ein Wolf aus einem Wurf die Gabe zeigte. Manche Male gab es ganze Generationen eines Rudels, ohne eines Trägers der Bürde und auch hier war der Älteste der Einzige, der in seiner Jugend einen Gabenträger kannte. Bei der Kurzlebigkeit eines Wolfes von maximalen 20 Jahren also nicht verwunderlich, wenn diese Sonderlinge Furcht und Aberglaube weckten.

„Nun, was soll's. Schreit nach einer Lehrstunde in Ahnenkunde, nicht wahr?!“

So reckte der alte Wolf sich erneut, schüttelte den lichtgewordenen Pelz und warf den Kopf in den Nacken, um auf alter Wolfsmanier ihnen die Flausen aus dem Kopf zu schlagen:

„So setzt euch zu mir, Wölfe, Brüder und Schwestern.
Schweigt und haltet die Fänge geschlossen, solange ich nun die alte Geschichte heule, damit ihr dieser lauschen könnt! Die Geschichte über unsere Höchsten und unsere Schwächsten. Über die Götter und die lange Wanderschaft, über die Bürde, die wir alle tragen und uns ewig heimsuchen wird.

Wir beginnen im ewigen Winter. Die Welt lag erfroren da, zugedeckt unter dem dicken Pelz des Schnees. Die Luft schnitt in den Lungen der Lebenden und zerrte an ihren mageren Gestalten. Damals gab es nur wenige von uns. Ausgesetzt von den Göttern suchten wir einander und anderes Leben. Wir kannten nicht unsere Bestimmung, unseren Weg, unsere Herkunft. Wo fing unser Weg an? Wir erinnerten uns nicht. Wohin laufen wir? Wir wussten es nicht. Wer ist mein Nächster? Auch hier kannten wir keine Antwort. Die Wölfe legten sich des Nachts gemeinsam schlafen, doch kannten sie nicht ihre Namen. Sie wanderten beisammen, jedoch führte sie keiner.

Über ihnen Allen hing eine Furcht. Ohne den eigenen Namen zu kennen, wusste doch ein jeder Wolf, dass sie etwas unbeschreibliches getan hatten. Etwas so schreckliches, dass der Zorn der Götter nun über der Welt hing und die Wölfe aus Scham ihrer selbst vergessen hatten. Die Welt blieb gleich. Schnee und Eis so weit sie wittern und sehen konnten. Nichts änderte sich. Ein Kreislauf des Todes und des Hungers. Einer nach dem Anderen wurde dahin gerafft, blieb liegen und wurde von den anderen verlassen. Die Wölfe erinnerten sich nicht an ihr Verbrechen, trotzdem spürten sie ihren nahen Tod. Doch entschieden die Götter anders. Die große Wolfsmutter erbarmte sich ihrer Kreaturen. So versammelte sie den Rat der Höchsten Wesen noch einmal, um die Strafe zu ändern. Regen, der zu Eis erstarrte; Schneewehen und klirrende Kälte, Gewitter und Erdbeben lies unsere armseligen Ahnen erzittern, während der Rat beieinander saß und über sie richtete. Denn nicht nur die Wölfe, die Lebendigen selbst hatten die Götter enttäuscht und verraten. Ein jeder von Ihnen hatte den Hauch des Lebens in sich. Die Gabe, die Magie der Geburt. Sie waren die Träger gewesen, welche der Welt ihrem Atem gegeben hatte. Sie, die ersten Wesen, von den Götter erschaffen, hatten die Aufgabe gehabt, die Welt zu beleben. Und so waren sie alle ausgesandt worden, jeder mit seinem Schicksal. Und wie wir Wölfe gelaufen waren! Weit hatten uns unsere Pfoten getragen und jeder Schritt lies Bäume wachsen und Licht in die Nacht bringen. Wir gaben der Welt Namen und entdeckten all jenes, was die Götter erschaffen hatten und was wir nun beleben sollten. Unsere schlagenden Herzen gaben dem Boden den wir betraten Farbe, Geruch und Leben. Doch wir verrieten unsere Götter. Wir alle taten es. Wir missbrauchten unsere Gaben. Und so kam der Winter über uns alle und wir vergaßen unseren Ursprung.

Und als das Urteil gesprochen wurde, beruhigte sich die Welt. Die Höchsten zerstreuten sich, um ihren Schöpfungen eine neue Chance zu geben. Und so erschien, in der Gestalt einer buntgescheckten Krähe, die Göttin auch unseren Ahnen. So schwach waren die letzten unserer Art geworden, dass sie nicht einmal den Kopf mehr heben konnten, um der Göttin Ehre zu erweisen. Zu ein jedem Wolf ging sie und sprach seinen Namen. Als sie nun ihren Namen hörten, und den Namen ihres Rudels und den Platz ihrer Geburt, regte sich wieder Lebensmut in den kranken Geschöpfen. Denn nun waren sie nicht mehr alleine, sondern zugehörig. Und nun sprach die Göttin zu ihren Schützlingen. Für immer sollte der Wolf vergessen woher er gekommen war und wo der Weg zurück zu den Höchsten lag. Für immer sollte der Ort der letzten Ruhe verschlossen bleiben, denn die Lebenden seien unwürdig ihn zu betreten. Das Vergessen soll unsere Strafe sein. Wo vorher jeder Wolf jeden Namen aller Rudeltiere, der Vergangenen und Künftigen, kannte, so soll er nun vergessen, wo seine Zugehörigkeit liegt. Die Gabe wird von ihm genommen, denn er war ihrer nicht würdig und er soll Schmerz und Hunger spüren; Kälte, Durst und Verlust ohne den Trost des Namenswissen. Kein Wolf würde mehr unsterblich in den Liedern des Rudels leben, denn der nächste Wurf würde sie vergessen.

Da winselten unsere Ahnen vor Mutlosigkeit. Und wussten sie doch um ihre Schuldigkeit, so konnten sie nicht begreifen, wie sie so leben sollten. Ein Wolf trat zu der Göttin und bat sie um Milde. Nicht für sich sprach er, wie er sagte, sondern für seine Kinder. „Oh große Göttin, welchen Sinn hat ein Leben, wenn meine Kinder für etwas büßen müssen, was sie nie taten, was sie nie wissen werden? Große Göttin, wer wird sie lenken und davon abhalten noch einmal abtrünnig zu werden? Wer wird sie führen, wenn sie ihre Namen nicht wissen, wie wir sie nicht wussten und nur krank durch die Welt liefen?“. Da fragte die Göttin nach dem Namen des Wolfes, doch er antwortete, sein Name sei unwürdig noch einmal ausgesprochen zu werden, zu groß sei die Schuld, die er diesem auferlegt hatte. Und so sprach die Göttin abermals zu ihm: „Lebender, du wirst von nun an Krähe heißen. Deine Gabe wird bleiben, doch auch du wirst vergessen und einen langen Weg hinter dich bringen müssen, ehe du begreifst, was du tatest. Auch deine Kinder werden diesen Namen tragen und sie sollen mit der Gabe gesegnet sein. Du wirst die Wölfe leiten und führen. Wie eine Mutter ihren Kindern die Welt zeigt, wirst du den Rudeln Rat geben. Du wirst nicht fähig sein, über sie zu herrschen und sie sollen dich fürchten wegen deiner Andersartigkeit und vergessen, denn du wirst länger leben. Und so prüfe ich noch einmal euren Glauben, meine Geschöpfe.“
Und so geschah es. Der Krähenwolf blieb alleine unter den Wölfen, die Familien gründeten und in der erwachenden Welt Nahrung für ihre Kinder suchten. Bis heute durchwandert er die Gebiete dieser Welt und ruft die Träger der Bürde zu sich, um sie zu lehren und zu unterrichten und auf die Reise zu den Göttern zu schicken.“


Das Heulen erstarb und ging in ein Röcheln unter. Keiner von ihnen hatte bisher die ganze Geschichte gehört, auch wenn sie alle wussten, dass auch das nur ein Auszug war. Ehrfürchtige Stille umlagerte den Rudelplatz, als der alte Wolf sich wieder auf seinen Platz begab. „Das ist doch alles Blödsinn!“, begehrte der Jungwolf auf, „Wir haben doch nicht vergessen! Du hast es doch eben geheult! Wie können wir was vergessen, was erzählt wird?“. Doch da lachte der Älteste nur. „Ach, haben wir nicht?“, und mehr sagte er dazu nicht, ehe er erschöpft die Augen schloss und tief und fest einschlief.
Zirp, Anuka , Marijke mit Riketz, Krähenwolf, Bursche

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